Strange Days - Band 1

 

Leseprobe 1

 

 

Als Alex die Augen erneut öffnete, hing das blaue Äffchen noch immer an der Decke.

»Was zum Geier ...«, murmelte er, wobei seine Zunge sich anfühlte wie ein gestrandeter Fisch, der mit letzter Kraft auf der Suche nach dem rettenden Wasser herumhopste.

Okay, dachte er sich, neuer Versuch. Er ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken, schloss die Augen und rieb mit den Handballen über die Lider, bis seine Netzhäute weiße Lichtblitze an das Gehirn funkten. Dann blickte er nochmals nach oben.

»Shit.«

Ein blaues Äffchen hing immer noch über ihm, ganz offensichtlich die Tatsache ignorierend, dass es nicht existieren konnte ... oder durfte. Nichts durfte einfach so an der glatten Decke haften, besonders nicht, wenn es ... nun, blau war.

Bei genauerer Betrachtung schien es auch kein normales Äffchen zu sein, zumindest keines, das Alex jemals gesehen hätte; und seine Farbe war bei Weitem nicht das Ungewöhnlichste an ihm: Die Augen des Viehs waren viel zu groß für den tennisballgroßen Schädel und gafften Alex seltsam hypnotisch entgegen. Die Ohren wirkten ebenfalls wenig affig und liefen spitz zu. Das kleine Maul war zwar geschlossen, dies hielt die Spitzen zweier beeindruckender Eckzähne aber nicht davon ab, unter der Oberlippe hervorzuschauen. Ansonsten erinnerte der restliche Körperbau jedoch frappierend an ein Kapuzineräffchen oder etwas Ähnliches.

Der lange Schwanz schlängelte sich Alex von oben entgegen und er ertappte sich bei dem Wunsch, nach ihm zu greifen, einfach, um herauszufinden, ob er ihn würde berühren können.

Nein, sagte er sich, vollkommen zum Idioten mache ich mich nicht. Ich bilde mir das nur ein!

Und dann fiel ihm noch ein Merkmal auf, welches das Ding von sämtlichen ihm bekannten Affen-Arten unterschied: Es besaß überhaupt kein Fell!

»Blaue Haut«, grummelte er, »wenigstens sind meine Hallus kreativ.«

Er entschied, dass es wohl das Beste wäre, die Sache erst einmal komplett zu ignorieren. Also stemmte er sich in der Absicht, eine sitzende Position einzunehmen, auf die Ellbogen hoch.

Sofort schlugen die Kopfschmerzen zu und bohrten ihm glühende Nadeln in Stirn und Schläfen. Alex hatte mit ihnen gerechnet; er hatte sozusagen Erfahrung mit ihnen. Daher verzog er nur leicht das Gesicht und ließ sich von diesen Unannehmlichkeiten nicht von seinem Vorhaben abbringen. Er schwang die Beine über die Bettkante und stellte seine Füße auf den angenehm kalten Fußboden. Mit der rechten Hand ergriff er die Kante des Nachttisches, dann drückte er sich entschlossen nach oben.

Vor seinen Augen waberte ein schwarzer Vorhang und zu dem Schmerz in seinem Kopf gesellte sich ein starkes Schwindelgefühl. Alex krallte sich verbissen an dem Nachttisch fest und konzentrierte sich darauf, die Streckung seiner Beine beizubehalten. Derweil spürte er, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, während das Organ protestierend versuchte, den Blutdruck anzuheben.

Langsam klärte sich sein Blick wieder, und auch der Schwindel ließ allmählich nach. Er murmelte: »Gut«, ließ den Nachttisch los und stakste ins Bad, wobei es sich anfühlte, als ginge er auf Stelzen anstatt Beinen aus Fleisch und Blut. Aber auch das kannte er bereits und ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen.

Er klappte den Klodeckel hoch und entledigte sich einer Ladung dunkelgelben, stark riechenden Urins. Offenbar hatte sein Körper das Bedürfnis, an diesem Morgen eine Menge Giftstoffe loszuwerden. Nachdem er gespült hatte, wandte sich Alex dem Waschbecken zu und drehte den Wasserhahn auf. Er schaufelte sich das eiskalte Wasser mit den Händen ins Gesicht, bis die Kopfschmerzen halbwegs betäubt waren. Dann grapschte er blindlings nach dem Handtuch und trocknete sich ab.

Er griff sich die Zahnbürste, um sie mit einer riesigen Ladung Zahnpasta zu bestücken. Nachdem er geschrubbt, gespült und gegurgelt hatte, fühlte er sich wieder halbwegs wie ein Mensch.

Alex blickte in den Spiegel seines Badezimmerschränkchens. Braune, blutunterlaufene Augen, die zu tief in den Höhlen lagen und außerdem von dunklen Ringen gesäumt wurden, starrten ihm aus einem bartstoppeligen, ungesund blassen Gesicht entgegen.

»Guten Morgen, Tiger«, begrüßte er sein Konterfei und freute sich über die Erkenntnis, dass seine Zunge wieder zu seinem Körper zu gehören zu schien.

Er befeuchtete sich die Hände und zupfte sein störrisches Haar in eine halbwegs annehmbare Form. Kontrolliertes Chaos nannte er diese Art der Frisur. Zuletzt rasierte er sich. Das anschließende Brennen seiner Haut verriet ihm, dass er besser neue Rasierklingen kaufen sollte. Hatte er das nicht schon bei seinem letzten Einkauf vorgehabt? Und wann war er eigentlich das letzte Mal einkaufen gewesen?

Ihm wurde klar, dass er diese Frage unmöglich würde beantworten können, ohne vorher in Erfahrung gebracht zu haben, welcher Tag heute war. Also drehte er sich um und verließ das Bad. Er hatte vor, seinen Laptop anzuwerfen, seinen Kontakt zu den Geschehnissen überall auf der Welt.

Er freute sich schon auf den starken Kaffee und den Toast, die er sich nebenbei einverleiben würde, als seine morgendliche Routine jäh von dem Anblick des immer noch an der Zimmerdecke hängenden Äffchens unterbrochen wurde. Es war ihm offenbar einige Meter in Richtung Bad gefolgt und glotzte ihm nun wieder von oben entgegen. Alex schluckte, zwang sich, die Augen abzuwenden und begab sich zu der Sammlung leerer Flaschen, die vor seinem Bett standen. Beeindruckt und leicht erschrocken angesichts dessen, was sich gestern wieder alles angesammelt hatte (drei Hefeweizen und eine Flasche Rotwein), trug er sie in den Flur und sortierte sie ins Altglas beziehungsweise den Bierkasten ein.

Das Äffchen war nicht da! Es konnte nicht da sein, allen Gesetzen der Physik und Logik spottend. Einfach ignorieren, dann würde es schon irgendwann wieder verschwinden!

Er schlurfte in die Küche, wobei er unterwegs in seine Pantoffeln schlüpfte –so langsam wurde ihm der kalte Boden dann doch unangenehm. Er griff in den Kühlschrank, schnappte sich die Tüte mit dem Toast, die Margarine sowie das Glas mit der Erdbeermarmelade und machte sich daran, sein Frühstück zuzubereiten. Eine dampfende Tasse dunkler Brühe, die Alex seiner heiß geliebten Kaffeepad-Maschine abnötigte, vervollständigte die Sache. Mit dem fertigen Erdbeermarmeladen-Toast und einer Tasse schwarzen Kaffees in der Hand wandte er sich wieder um … und hätte beinahe alles fallen gelassen, als er sah, was auf dem Küchentisch hockte.

»Du, du ...«

Er ruderte wild mit der Kaffeetasse in Richtung des blauen Äffchens. Ein Teil des koffeinhaltigen Getränks schwappte auf den Fußboden.

»Dich gibt es nicht. Verschwinde!«

Wie blöd hört sich das denn bitteschön an, dachte er sich, zum Glück hört mich niemand.

Die Schlussfolgerung, die sich ihm dann aufdrängte, war noch weitaus beunruhigender: Jetzt ist es also so weit. Ich unterhalte mich mit den Produkten meiner Fantasie. Ich bin verrückt. Auf die leeren Flaschen im Flur schielend, spann er den Gedanken noch ein Stück weiter: Hab ich‘s also doch noch geschafft, mich komplett zu ruinieren.

Aber war es nicht eigentlich so, dass ein Verrückter seine eigene Verrücktheit nicht erkennen konnte? Nur ein im Großen und Ganzen geistig gesunder Mensch war doch in der Lage, sich selbst für geisteskrank zu erklären … oder nicht?

Alex wurde jäh von diesem kniffligen Dilemma befreit, als das Äffchen den Kopf schief legte, mit seinen großen, dunklen Glupschaugen blinzelte und ihm dann mit tiefer, ruhiger Stimme verkündete:

»Das reicht jetzt, Alex. Sieh zu, dass du nüchtern wirst und fang endlich an, dich normal zu benehmen. Wir müssen reden!«


 

Kalter Schweiß stand plötzlich auf seiner Stirn, sein Mund fühlte sich trocken an und die Hand, die immer noch die Kaffeetasse hielt, zitterte.

Es spricht mit mir. Oh mein Gott.

Er hatte nicht viel Ahnung von Psychiatrie, aber soviel er wusste, war es nie gut, wenn man Stimmen hörte. Und er hörte nicht nur eine Stimme, er sah auch ihren völlig unwahrscheinlichen Ursprung!

In einer Geste, die geradezu unheimlich menschlich wirkte, breitete das Äffchen einen Arm aus und deutete jovial auf einen der Küchenstühle.

»Vielleicht wäre es besser, wenn du dich hinsetzt.«

Alex handelte wie unter Hypnose. Offenbar hatte sich sein Bewusstsein eine Auszeit genommen. Ohne dass er es eigentlich wollte, saß er drei Sekunden später am Küchentisch.

Ungläubig musterte er den Affen (aufgrund der Stimme hatte Alex ihn mittlerweile dem männlichen Geschlecht zugeordnet), der keinen halben Meter vor ihm auf den Fersen hockte. Aus unerfindlichen Gründen kam ihm plötzlich eine Episode der Simpsons in den Sinn, in der Homer ein kleines Äffchen als Haushaltshilfe gehalten hatte. Daher taufte er die Kreatur im Stillen auf den Namen Mojo.

Ein irres Kichern entfuhr im, worauf Mojo ihn nun seinerseits musterte.

»Geht es dir gut, Alex?«

Eine Frage, die an Ironie kaum zu überbieten war. Alex‘ Kichern schwoll zu schallendem Gelächter an. Als er sich wieder halbwegs im Griff hatte, verkündete er: »Du existierst nur in meiner Fantasie. Ich habe zu viel getrunken und gekifft, darum halluziniere ich jetzt. Und ich werde mich nicht mit dir unterhalten, da ich somit quasi deine Existenz anerkennen würde!«

Nachdem er kurz über seine kleine Ansprache sinniert hatte, fügte er ergänzend hinzu: »Diese paar Sätze natürlich ausgenommen.«

Mojo wirkte erneut auf unheimliche Art menschlich, als er sich eine seiner winzigen Affen-Hände vor das Gesicht schlug und tief seufzte.

»Und das«, sagte Alex, »ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass ich mir dich nur einbilde. Affen verhalten sich nicht so!«

Er erkannte, dass er sich entgegen seines Vorsatzes schon wieder mit Mojo unterhielt und wandte theatralisch den Kopf ab.

»Wer sagt denn, dass ich ein Affe bin?«, grummelte es vom Küchentisch her. »Hast du etwa schon einmal einen Affen gesehen, der so aussah wie ich?«

Alex begann damit, eine improvisierte Melodie zu pfeifen.

»Verdammt, Alex!«

Er pfiff noch lauter und nippte zwischendurch demonstrativ an seinem Kaffee.

Mojo hörte sich inzwischen reichlich genervt an, als er vom Tisch her zischte: »Ich existiere, Alex, und ich habe Dinge von enormer Wichtigkeit mit dir zu besprechen! Könntest du mir bitte zuhören?«

»Du existierst nicht.« Pfeif, pfeif, pfeif.

Ein weiterer Seufzer vom Tisch, dann: »Na gut, du zwingst mich ja dazu ...«

Aus dem Augenwinkel gewahrte Alex eine schnelle Bewegung, doch noch ehe er den Kopf wieder dem Geschehen auf dem Tisch zuwenden konnte, schoss ein scharfer Schmerz durch seine rechte Hand. Er brüllte vor Überraschung und Pein, sprang vom Stuhl auf und riss die Rechte nach oben. Mojo hing daran; seine Zähne hatten sich tief ins Fleisch gebohrt.

Ohne nachzudenken versuchte Alex, das blaue Wesen irgendwie abzuschütteln. Bluttropfen spritzten in alle Richtungen davon und ruinierten die Küche.

»Lass los, verdammt!«

Mojo hatte sich in seiner Hand verbissen wie der kleinste Bullterrier der Welt und nuschelte: »Glaubfu nun, daff ef mif ibt?«

Alex hatte sich wieder notdürftig in der Gewalt, knallte die Kaffeetasse, deren Inhalt sich inzwischen komplett auf dem Fußboden befand, auf den Tisch und schnappte mit der nun freien Linken seinen Angreifer. Der kleine Körper des Wesens verschwand fast vollständig in Alex‘ Hand. Erneut an die Simpsons denkend, zischte er: »Betet für Mojo!«, und machte sich bereit, dieses nervige Fantasieprodukt zu zerquetschen.

Mojo war schneller. Urplötzlich ließ er von Alex‘ rechter Hand ab und biss in seinen linken Daumen. Alex schrie auf und ließ das blaue Wesen vor Schreck fallen. Es rannte auf allen vieren zur nächstbesten Wand – und daran empor! Wie ein Gecko lief Mojo die Wand hinauf und blieb erst knapp unterhalb der Decke, in sicherer Distanz zu Alex, stehen.

»Tut mir leid, dass dies nötig war«, rief er ihm von dort schwer atmend entgegen.

Alex starrte fassungslos zwischen seinen blutenden Händen und Mojo hin und her. »Du ... du Bastard! Warum hast du das getan?«

»Damit du mir endlich zuhörst und glaubst, dass ich wahrhaft existiere, deshalb! Wenn ich dir einen Rat geben darf: Du solltest deine rechte Hand verbinden. Sieht übel aus.«

»Ich bin dir weit voraus«, murmelte Alex, während er damit beschäftigt war, ein Geschirrhandtuch notdürftig um seine geschundene Extremität zu wickeln.

»Und damit eines klar ist: Dich gibt es nicht! Ich weiß zwar nicht wie, aber ich muss mir diese Verletzungen irgendwie selbst zugefügt haben.«

Er erinnerte sich an das Ende von Fight Club und an die Szenen, in denen Edward Norton sich selbst verprügelte, immer im Glauben, gegen Brad Pitt zu kämpfen.

»Es gibt dich nicht und ich werde dir auch nicht zuhören.«

Er eilte in sein Schlafzimmer zurück, zog sich eine Jeans, ein schwarzes T-Shirt und schwarze Socken an und ging dann ins Bad, wo er das Handtuch entfernte, anschließend seine Wunden auswusch und mit jeder Menge Pflastern versah. Währenddessen krabbelte Mojo ihm beständig an der Decke hinterher und versuchte, auf ihn einzureden, doch Alex ignorierte ihn. Kalte Angst hatte von seinen Eingeweiden Besitz ergriffen. Er wollte nur noch raus aus der Wohnung, so schnell wie möglich. Er ging in den Flur, schlüpfte in seine Sneaker, steckte sein Handy ein und fischte sich eine leichte Jacke vom Haken.

»Okay, ich will es für den heutigen Tag gut sein lassen«, rief die blaue Kreatur über ihm, »aber bitte tu mir einen Gefallen ...«

Alex riss die Wohnungstür auf, machte einen schnellen Schritt hindurch und warf sie hinter sich ins Schloss. Von drinnen hörte er Mojo rufen: »Wenn du den gelben Wagen siehst, hüte dich vor dem Nordmann!«

Alex hielt kurz inne. Seine Hand am Knauf war schweißnass. Sein Herz raste. Er atmete hektisch. Er hatte eindeutig den Verstand verloren. Oh Gott, was sollte er nur tun? Wo konnte er hin?

»Hast du mich verstanden, Alex? Ich weiß leider selbst nicht so recht, was es zu bedeuten hat, aber es ist von immenser Wichtigkeit! Wenn du den gelben ...«

Egal wohin, nur schnell weg von hier!

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete er das Treppenhaus hinab.