Wurmstichig

 

Leseprobe

 

 

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(Aus einem Schreiben von Dr. Faiß)

 

Na, glaubst du mir jetzt?

Ich hatte mir fast gedacht, dass du wieder in der Versenkung verschwinden würdest. Entweder hältst du mich für übergeschnappt oder du hast dir meinen Rat zu Herzen genommen. Und normalerweise würde ich dich jetzt auch in Frieden lassen. Aber hier ist nichts mehr normal.

Woher ich deine Anschrift hab? Du würdest dich wundern, was man heutzutage alles herausfinden kann, wenn man sich ein bisschen mit Computern auskennt. Ich hatte viel Zeit seit meiner Pensionierung und dem Tod von Lore.

Leider muss ich mich kurz fassen, denn ich weiß nicht, wann sie wiederkommen. Also zur Sache: Vorgestern kam einer runter, Junge. Ein Meteorit! Ich hab’s ja gesagt – obwohl es mir lieber wäre, wenn ich mich geirrt hätte. Ich hab alles gesehen, lag auf einem Hügel auf der Lauer und hatte das Dorf im Blick. Es ist nachts passiert. Der Himmel war kristallklar, noch nie hab ich so viele Sterne so hell funkeln sehen. War fast wie ein Strudel, der mich aufsaugen wollte. Wirbel von Sternen, Planeten, Galaxien. Und mittendrin wir auf unserem lächerlich kleinen Staubkorn.

Ich hatte ein Nachtsichtgerät mit Vergrößerungsfunktion dabei, darum hab ich gleich gesehen, wie sie aus der Kirche kamen. Nicht die Schwamm-Menschen, sondern die Frauen. Die vermissten jungen Dinger!

Die Schwamm-Menschen selbst hab ich trotz Nachtsichtgerät kaum erkennen können. Du siehst es ja auf den Fotos – die strahlen keine Wärme ab. Frag mich nicht, wie das möglich sein kann, aber es gibt eigentlich nur eine Erklärung für die Sache: Es sind Kaltblüter. Poikilotherm nennt der Fachmann das, ich hab‘s nachgesehen. Passen sich ihrer Umgebungstemperatur an, wie Reptilien. Oder Amphibien. Kriechzeugs. Jedenfalls nichts Menschliches. In endlosen Strömen haben sie sich auf die Straßen ergossen, Hunderte müssen es gewesen sein. Immer den jungen Frauen nach. Ich sag dir, was Vergleichbares hab ich noch nie gesehen! Nachtschwarzes Leben, unnatürlich und bösartig, huschend, kriechend, zuckend. Mit Kutten, Schürzen und Tüchern verhüllt, so dass ich nie wirklich was sehen konnte.

Sie kamen aus der Kirche, die Frauen nackt und zitternd. Leuchteten vor meinen Augen so hell wie die Unschuld, die sie waren. Sind verstört herumgestakst wie Blinde, wurden geschubst, gestoßen, gezogen. Ich will mir nicht vorstellen, was sie denen alles angetan haben. Und die Mädchen hatten es noch nicht überstanden, oh nein. Was dann kam, war mit Sicherheit das Schlimmste.

Die Schwamm-Menschen haben sie aus dem Dorf raus und in den Wald gescheucht. Ich musste meine Position aufgeben und ihnen hinterherschleichen, wenn ich wissen wollte, wie es weiterging. Kurz hab ich überlegt, ob ich stattdessen ins Dorf gehen und mich dort umsehen sollte – wie’s aussah, waren alle Bewohner außer Haus. Aber ich konnte die Frauen doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.

Ich bin ihnen durch den Wald gefolgt, so leise und vorsichtig wie möglich. Einmal ist ein Fuchs an mir vorbeigehuscht und ich hab fast einen Herzinfarkt bekommen. Meine alte Pumpe wird dieser Tage arg strapaziert, das kann ich dir sagen. Aber die Schwamm-Menschen haben mich nicht entdeckt. Waren viel zu sehr mit ihrem furchtbaren Ritual beschäftigt.

Etwa eine halbe Stunde später spuckte der Wald sie aus, hinaus auf eine Lichtung so groß wie ein Fußballplatz. In der Mitte war ein uralter Steinkreis. Die Monolithen sahen stark erodiert aus und waren zugewuchtert mit Moos und Flechten. Ich kenne mich wie du weißt ganz gut mit Steinen aus und bin mir sicher, dass es so ein Mineral nirgends auf der schwäbischen Alb gibt.

Am Rand der Lichtung, auf einer kleinen Anhöhe, hab ich mich hingekauert und meine Waffe hervorgeholt. Ja, ich hatte eine Flinte dabei, ein Jagdgewehr. Aber mir wurde schnell klar, dass es mir im Ernstfall keine große Hilfe sein würde. Es waren einfach zu viele. Mindestens zweihundert, und noch immer konnte ich sie kaum sehen. Nur die nackten Frauen, die brannten sich in meine Netzhäute und meinen Verstand. Ihre Füße müssen schon ganz blutig gewesen sein vom Marsch über den Waldboden. Jetzt wurden sie in den Steinkreis gezerrt und an die Monolithen gefesselt. Man hat sie so angebunden, dass die Abstände zwischen ihnen ungefähr gleich groß waren und sie alle auf die Mitte des Kreises blicken mussten. Haben sich bestimmt gegenseitig in die Augen gesehen und dort nur noch mehr Verzweiflung gefunden.

Die Schwamm-Menschen stellten sich außerhalb der Steine hin, in sauberen, geordneten Kreisen. Haben sich nach hinten gebogen, glaub ich. Wahrscheinlich haben sie in den Sternenhimmel gesehen. Einer hat angefangen, was Unverständliches zu singen, und kurz darauf stimmten sie alle ein. Ich hab kein Wort verstanden und bin mir ziemlich sicher, dass es keine Sprache war, die irgendwo sonst gesprochen wird. Viele Konsonanten, unmelodisch … guttural ist ein gutes Wort, denke ich. Ihre Stimmen waren nicht menschlich. Zischend, fauchend, tief und bedrohlich. Hat nicht lange gedauert und die Frauen haben zu weinen begonnen. Ich kann mich an den Singsang nur schwer erinnern, aber ein Wort ist mir im Gedächtnis geblieben, weil es ständig wiederholt wurde: »Ygdolagh, Ygdolagh, Ygdolagh!«

Keine Ahnung, ob man’s so schreibt, aber so hat sich’s angehört. Immer lauter sind sie geworden, und immer öfter haben sie das gerufen. Irgendwann hab ich dann auch nach oben gesehen, weil ich irgendwie gespürt habe, dass dort was vorging. Und da sah ich ihn kommen.

Er war so hell, dass ich das Nachtsichtgerät von den Augen wegklappen musste. Selbst ohne diese Hilfe konnte ich ihn deutlich erkennen. Ein roter Stern, der immer heller wurde und sich bewegte.

Nein, kein Stern, hab ich noch gedacht, das ist der Meteor.

Da ist er auch schon runtergekracht, genau ins Zentrum des Steinkreises, zwischen die nackten Frauen. Schlamm und Staub wurden aufgewirbelt, nach außen geschleudert wie bei einer Explosion. Es hat gepoltert, als würde man ein großes Geschütz abfeuern. Der Boden hat gebebt und ich war mir sicher, dass meine Geräte zuhause das aufgezeichnet hatten.


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