Fünf Tode

 

Leseprobe - der Anfang des Romans

 

 

Als Tim Reiter zum ersten Mal starb, grillte er dabei seinen Hamster.

Mr. Smitty steckte in Tims Jackentasche, wie immer, wenn sie sich gemeinsam in ein Abenteuer aufmachten. Tim konnte ihn spüren, hörte das Knirschen und Knacken, als sein kleiner Freund eine Erdnuss öffnete. Mom würde schimpfen, wenn sie die Sauerei in der Tasche bemerkte, aber wenn man Abenteuer zu bestehen hatte, konnte man auf solche Kleinigkeiten keine Rücksicht nehmen.

»Friss ruhig, du musst bei Kräften bleiben«, raunte der blonde Junge dem Hamster zu. Wenn man dabei war, sich Hals über Kopf in Gefahr zu begeben, war es äußerst wichtig, einen vollen Bauch zu haben. Aus den Cowboyfilmen, die Tim sich immer dann ansah, wenn Mom gerade nicht aufpasste, ging klar hervor, dass geschwächte Personen keine Chance hatten. Wer ohne Wasser in der Wüste umherirrte, konnte sich auch gleich selbst abknallen. Und wem in der Prärie die Nahrung ausging, der schnitt sich besser gleich die Haare vom Kopf, denn die Indianer würden ihn sowieso kriegen.

»Und wir müssen noch viel besser mit unseren Kräften haushalten, Mr. Smitty«, flüsterte Tim. Er hatte keine Ahnung, was das Wort haushalten bedeutete, doch es schien ihm zu passen. Diejenigen Cowboys, die schlaue Worte benutzten, überlebten meistens. Und Tim wollte überleben, denn später würde es Pfannkuchen mit Zimt und Zucker geben. Er roch bereits ihren Duft, konnte hören, wie sie in der Ferne brutzelten; unten in der Küche, jenseits der Einöde des Todes, die bevölkert war von Zargen.

Für Mom und Dad war es keine Einöde, sondern lediglich der Flur, der die Zimmer im ersten Stock verband. Aber sie wussten schließlich auch nicht Bescheid. Sie glaubten Tim niemals, wenn er ihnen von den Schatten berichtete, die durch das Haus glitten und dabei schwarze Wölkchen ausspuckten wie Abgase. Zarge waren verdammt leise, aber Tim hatte gelernt, ihr Rauschen von dem des Windes zu unterscheiden. Er wusste, wann sie im Haus waren, um an ihrem finsteren Plan zu arbeiten. Und er würde diesen Plan vereiteln!

Was genau die unheimlichen Kreaturen vorhatten, wusste Tim nicht. Noch nicht. Aber er war der einsame Held, derjenige, dem niemand glaubte. Das Schicksal einer solchen Person war es, die Bedrohungen aufzuhalten, sei es im wilden Westen oder in Tims Superhelden-Comicbüchern. Und ihr stand dabei meist ein Verbündeter zur Seite.

Tim tätschelte seine Jacke; ein leises Fiepen erklang in der Tasche. »Wir schaffen das schon, Kumpel. Nur Mut!«

Er bückte sich und hob seine Waffen auf: die riesigen Stricknadeln, die Mom seit Tagen suchte. Tim hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sie geklaut hatte. Und er wusste, dass Mom ihn bestrafen würde, wenn sie ihm auf die Schliche kam.

»Timmy, diese Nadeln sind gefährlich«, hatte sie ganz ernst zu ihm gesagt. »Wenn du irgendwas weißt, dann sag es mir bitte.«

Er hatte ihr ins Gesicht gelogen und fühlte sich schuldig deswegen. Aber es war nötig gewesen. Extreme Situationen verlangten manchmal nach extremen Taten.

Tim nahm beide Nadeln in eine Hand, vergewisserte sich, dass Mr. Smitty guten Halt hatte und nicht unterwegs herauspurzeln würde, ließ sich auf die Knie hinab und kroch auf allen Vieren los.

Das Rauschen der Feinde war kaum zu hören, sogar das Brutzeln der Pfannkuchen übertönte ihre Geisterlaute. Aber Tim hatte sie gesehen, sie waren an seiner geöffneten Zimmertür vorbeigeglitten wie Gewitterwolken. Länglich, flink und in der Luft schwebend. Wenn man genau hinsah, bildete sich in den Schwaden manchmal ein grässlicher, verzerrter Totenschädel. Drei Zarge. Tim war äußerst beunruhigt, denn sie kamen sonst immer einzeln. Nie zuvor hatte er einen ganzen Trupp der feindlichen Wesen durch das Haus geistern sehen. Und die Richtung, in der sie unterwegs gewesen waren, machte ihm ebenfalls Sorgen.

Katis Zimmer, dachte er. Plötzlich tat Tims Bauch weh. Seine kleine Schwester lag dort in ihrem Bettchen und schlief. Mom glaubte, sie sei sicher, weil sie über dieses Babyfon-Funkgerät-Dings alles hören konnte, was in dem Zimmer geschah. Aber das stimmte nicht! Die feindlichen Truppen waren viel zu leise, das Gerät rauschte lauter als sie.

Tim wurde kalt, seine Hände fingen an zu schwitzen. Er überlegte noch einmal, ob er Mom etwas sagen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Sie würde ihm sowieso nicht glauben. Und wenn sie nach oben kam, wären die Zarge höchstwahrscheinlich verschwunden, wie üblich. Oder Mom starrte direkt durch die Wesen hindurch und behauptete, sie würde nichts sehen – wie üblich. Außerdem würde sie Tim gehörig die Leviten lesen, wenn sie ihn mit ihren Stricknadeln erwischte. Nein, der Held durfte von einer erbosten Frau nicht vom rechten Weg abgebracht werden. Er musste sich der Sache allein stellen, allenfalls mit der Hilfe seines Gefährten.

Also kroch Tim weiter. Sein Herz schlug immer schneller, je näher er der Tür kam. Sie war geschlossen, von den Feinden weit und breit nichts zu sehen. Aber das musste nichts bedeuten. Tim hatte mehr als einmal beobachtet, dass Türen und Wände für die Rauchgeister keine Hindernisse darstellten.

Er bewegte sich so leise wie möglich und zuckte jedes Mal zusammen, wenn eines seiner Knie hörbar über den Teppich des Flurs scheuerte. Er wusste nicht, ob die Monster ihn überhaupt bemerken konnten, wollte in dieser Hinsicht jedoch kein Risiko eingehen. Aber wenn er jetzt so darüber nachdachte …

Die Rauchwesen hatten sich noch nie in Tims Richtung bewegt oder waren vor ihm geflohen, wenn er zu schreien angefangen oder seine Eltern zu Hilfe geholt hatte. Vielmehr schienen sie ihn zu ignorieren, so als sei er ihre Aufmerksamkeit nicht wert. Oder als würden sie ihn überhaupt nicht sehen.

Vielleicht ist es das, schoss es durch Tims Kopf. Vielleicht können sie niemanden sehen, weil auch niemand sie sehen kann – Mom und Dad sagen doch immer, da wäre nichts.

Falls das stimmte, bedeutete es, dass Tim nicht nur ein einsamer Held, sondern gleichzeitig etwas ganz Besonderes war. Er war der Einzige, der die Feinde sehen konnte. Womöglich war es seine Aufgabe, ihre Schwachstelle zu entdecken. Denn wenn Tim aus seinen Comics eines gelernt hatte, dann, dass jeder Gegner, egal wie gruselig, stark oder rätselhaft er sein mochte, über eine entscheidende Schwachstelle verfügte. Wenn der Held sie ausfindig gemacht hatte, konnte er den Bösewicht zur Strecke bringen.

Vielleicht weiß ich sogar schon, was es ist, dachte er und sah zu den Stricknadeln hinab. Er trug die Dinger schließlich nicht zum Spaß mit sich herum.

Dad hatte ihn auf die Idee gebracht. Es war vor ein paar Tagen gewesen, und ein einsamer Zarg war durch das Haus geschlichen. Tim hatte sich ganz fest gegen die Rückenlehne der Couch gepresst, als das Wesen ins Wohnzimmer geströmt war. Er hatte überlegt, ob er Dad etwas sagen sollte, aber dann hätte der ihn wieder für einen Feigling gehalten. Für einen Träumer. Aber Tim war kein Träumer, er war ein einsamer Held. Einsame Helden kannten keine Angst. Also hatte er nichts gesagt und durch zusammengekniffene Lider beobachtet, wie der Zarg sich an Dad herangeschlichen hatte.

Selbst falls es Dad möglich gewesen wäre, den Feind in seinem Rücken zu erkennen, hätte er ihn höchst-wahrscheinlich nicht bemerkt. Denn Dad hatte in höchster Konzentration auf seiner Unterlippe herumgekaut und sich dabei über die Steckdose gebeugt, an die normalerweise der Fernseher angeschlossen war. Das Gerät war plötzlich ausgegangen, und Tim hatte ganz bestimmt nichts damit zu tun gehabt. Aber Dad war Elektriker, er kannte sich mit so etwas aus. Nachdem er den Fernseher untersucht hatte, war er zu der Überzeugung gelangt, dass das Problem bei der Steckdose zu suchen sei.

Dort hatte er also gekniet, ein Messgerät mit zwei langen, spitzen Enden in der Hand gehalten und es an die runde Plastikbuchse herangeführt, während sich hinter ihm der Zarg aufrichtete. Das fremde Wesen hatte gezuckt und gebrodelt, dunkle Wölkchen waren ins Zimmer geschleudert worden und hatten sich in Nichts aufgelöst. Tim hatte die Hände vor die Augen genommen und zwischen den Fingern hindurchgelinst.

»Wollen doch mal sehen«, hatte Dad gesagt und die beiden Spitzen seines Geräts in die Öffnungen der Steckdose gedrückt. Und plötzlich hatte der Zarg zu zappeln begonnen. Er war von der Steckdose angezogen worden wie von einem Staubsauger. Jedes noch so kleine Wölkchen, das von ihm wegpuffte, war spurlos in der Wand verschwunden. Zwei Sekunden später hatten die beiden Öffnungen das gesamte Wesen verschluckt gehabt. Tim hatte seinen Augen nicht getraut, während Dad die Stirn gerunzelt und sich über die »komische Anzeige« auf seinem Gerät gewundert hatte.

Und das ist eure Schwachstelle, dachte Tim und streckte sich, um in kniender Haltung den Türknauf zu erreichen. Er drehte ihn so langsam wie möglich, aber er quietschte trotzdem. Tim biss die Zähne zusammen und riss die Nadeln hoch, damit sie alles aufspießen konnten, das durch die Tür strömte.

Nichts geschah. Tim schluckte; es hörte sich genauso laut an wie das Wummern seines Herzens. Er schob die Tür zu Katis Zimmer auf und hätte beinahe laut aufgeschrien, als er sah, was dahinter vorging.

Sie hatten sich um das Bettchen versammelt, brodelten, waberten, flossen dort umher und beugten sich über Tims schlafende Schwester. Von einem der Zarge aus wand sich ein zarter Rauchfaden durch die hölzernen Streben und glitt auf Katis Gesicht zu. Noch während Tim sich fragte, was das sollte, verschwand der Rauch in ihrem Nasenloch.

Kati atmete den Zarg ein! Etwas grässlich Kaltes umschlang Tims Eingeweide. Was immer die Rauchwesen vorhatten, es war böse und bestimmt verboten. Er musste etwas unternehmen, ehe seine Schwester dabei verletzt wurde.

Noch einmal tätschelte er Mr. Smitty.

Halten wir sie auf, Kumpel.

Mr. Smitty fiepte, aber keines der Monster schien es zu bemerken.

Bis zur nächsten Steckdose war es nur ein knapper Meter. Sie befand sich direkt oberhalb der Teppichleiste; Tim musste sich hinunterbeugen, um die Löcher zu finden. Er nahm eine Nadel in jede Hand und entschied, dass es an der Zeit für markige Worte war. Der einsame Held sagte immer etwas Cooles, ehe er die Schurken ausschaltete. Also rief Tim: »Fresst das, ihr verdammten Mistkerle!«, und rammte die Stricknadeln in die Steckdose.

Schmerzen, die schlimmer waren als alles, was Tim sich jemals vorgestellt hatte, schossen von den Händen aus in seinen Kopf. Mr. Smitty quiekte, ganz hoch und schrill, und es klang so schrecklich, dass Tim sich in die Hose machte. Danach wusste er nichts mehr.