Tiegensog (Die Akte Arkham IV) - Leseprobe

Kapitel 7 (Walter in Nöten)

 

Walter taumelte durch die Reihen der Bücherregale. Sein linker Unterschenkel brannte, als wäre er mit Säure übergossen worden, genau wie seine rechte Hand. Wo immer er sich abstützte, hinterließ er verschmierte Abdrücke, ein Muster aus rotglänzenden Tropfen markierte seinen Weg.

 Tekelili, flötete es hinter ihm. Ein Krachen folgte, und plötzlich begannen sich die Regale zu bewegen. Wie riesenhafte Dominosteine stürzten sie eines nach dem anderen um, brachten den Boden zum Beben und bombardierten Walter mit einem Hagel aus klobigen Folianten. Er stürzte – mindestens zum dritten Mal, seit er vor wenigen Sekunden vor dem Kamin hochgeschreckt war –, schirmte seinen Hinterkopf mit den Armen ab und schmierte sich dabei das eigene Blut ins Haar.

 Ein Schatten senkte sich rasend schnell über ihn. Das Dröhnen einer wuchtigen Kollision stoppte ihn nur Zentimeter von Walter entfernt – zwei der massiven Bücherregale hatten sich direkt über ihm ineinander verkeilt. Dutzende von uralten Wälzern gingen auf ihn nieder, während Staub aufwallte und in seinen Atemwegen brannte. Ein Hustenanfall schüttelte ihn. Irgendwo klirrte zerschellendes Glas.

 Tekelili, tekelili.

 Keuchend kroch er unter den Möbelstücken hervor und kam auf die Knie. Sein Rücken pochte von den Einschlägen und würde sich innerhalb der nächsten Stunden vermutlich grün und blau verfärben. Aber das war im Moment sein geringstes Problem.

 Mit letzter Kraft warf Walter sich zur Seite, als eine Art Tentakel, bestehend aus tausenden schleimiger Blasen, nach ihm schnappte. Für einen Moment glaubte er, lidlose Augen in der Blasenmasse treiben zu sehen. Sie flossen darin umher, ebenso haltlos wie die einzelnen Bläschen, und starrten voller Gier …

 Dann knallte er gegen ein weiteres umgestürztes Regal, prellte sich die Schulter und schlug sich den Kopf an. Der scharfe Schmerz klärte seine Gedanken ein wenig und half ihm dabei, sich zu orientieren.

 »Mist.«

 Trotz des wallenden Staubs konnte Walter deutlich erkennen, dass die Eingangstür seiner Detektei blockiert war. Mehrere der umgestürzten Möbelstücke hatten sich vor der Front des ehemaligen Buchladens zu einer tonnenschweren Barrikade aufgetürmt. Zwar war dabei die Fensterfront durchschlagen worden, doch blieb zwischen den Bücherregalen nicht genügend Platz, um ins Freie zu kriechen – zumindest nicht, ohne sich dabei an den in ihren Rahmen verbliebenen Scherben selbst die Haut abzuziehen. Licht drang von draußen herein, strahlender Sonnenschein, der in dieser bizarren und lebensbedrohlichen Situation vollkommen deplatziert wirkte. Er verwandelte die staubgeschwängerte Luft in die glühenden Plasmaschleier einer kosmischen Sternengeburt.

 Tekelili.

 Walters Augen weiteten sich, als der Großteil seines Angreifers in Sicht kam. Er schwappte regelrecht über das Chaos an umgestürztem Mobiliar hinweg, floss scheinbar widerstandslos auf ihn zu.

 »So etwas kann es doch nicht geben«, lallte Walter und musste sich gleich darauf erneut zur Seite werfen. Ein weiterer Ausläufer war aus dem unförmigen Leib geschossen und hatte ihn zu packen versucht. Er spürte einen Luftzug, als etwas dicht über seinen Kopf hinwegschoss.

 Eine gigantische Ansammlung aus Blasen, dachte er und kletterte panisch über Trümmer aus Massivholz. Sein linker Fuß trat dabei auf ein aufgeschlagenes Buch und rutschte weg, wobei er unfreiwillig mehrere Seiten umblätterte. Walter knallte mit dem Kinn gegen steinhartes Holz, schüttelte sich und kletterte weiter, so schnell er konnte.

 Ohne Symmetrie oder Form. Sie kann sich nach Belieben verformen und die unterschiedlichsten Gestalten annehmen, und es treiben … Mäuler in ihr …

 Er warf einen Blick über die Schulter und bereute es sofort. In dem amorphen Ding formte sich eine Art Fratze, eine albtraumhafte Nachbildung von Walters Gesicht. Dann eine Ausdehnung, die zur grotesk in die Länge gezogenen Perversion eines menschlichen Arms wurde. Die Hand, in die er auslief, versuchte ihn zu packen, in jeder Fingerbeere klaffte ein zahnstarrendes Loch.

 Walter schrie vor Entsetzen und stürmte blindlings vorwärts. Etwas prallte gegen seinen Solarplexus und trieb ihm den Atem aus den Lungen. Würgend hielt er sich daran fest, blinzelte gegen die Staubschleier an und erkannte, dass er am Fuß der Treppe in den ersten Stock stand. Seine unversehrte Hand umklammerte den Pfosten des Geländers. Mit zusammengebissenen Zähnen machte er sich an den Aufstieg.

 Tekelili.

 Nicht nur Mäuler, schoss es durch Walters Verstand. Auch Schnäbel, wie die von Tintenfischen. Mit ihnen pfeift es.

 Er wurde abermals von den Füßen gerissen, als die Treppenstufen unter ihm in Splitter und Sägemehl zerbarsten. Mit aller Kraft umklammerte er das, was von dem Geländer noch übrig war, zog sich daran in die Höhe und schaffte es tatsächlich, noch einmal Tritt zu fassen.

 Das Fußende der Treppe existierte nicht länger. An seiner Stelle wogte eine amorphe Masse, in der nun hunderte rotgeäderter Augäpfel trieben, in allen erdenklichen Größen und Formen. Dann veränderte das Ding abermals seine Gestalt, streckte sich, wurde zu einer Art Schlauch, der rasch in die Höhe wuchs.

 Es benötigt keine Treppe, wurde Walter klar. Verdammter Mist.

 Humpelnd und ächzend überwand er die letzten Stufen und wandte sich in Richtung des Schlafzimmers. Sein Herz wummerte, als wollte es den Brustkorb sprengen. Ihm war schwindlig, sein Magen verkrampfte sich.

 Walter hustete und würgte, als er durch den Türsturz taumelte und die vertrauten Laken vor sich sah – noch so zerwühlt, wie er sie vor einigen Stunden zurückgelassen hatte. Hastig umrundete er das Bett und griff mit feuchten Fingern nach dem, was nachlässig auf dem Nachttisch abgelegt worden war. Ein Triumphschrei entfuhr ihm, als er mit der linken Hand die Beretta aus ihrem Holster zog, jene Waffe, die Cynthia ihm geg…

 Das vertraute Stechen durchfuhr ihn, stärker als sämtliche körperlichen Schmerzen kombiniert. Walter krümmte sich zusammen, als habe ihm ein unsichtbarer Angreifer ein Messer in den Bauch gerammt.

 »Denk. Nicht. An. Sie«, grunzte er und drehte sich in Richtung Tür um, wobei er die Waffe entsicherte und auf den Korridor ausrichtete.

 Tekelili, flötete es dort, hallend, mysteriös und unendlich fremd. Schon kam das obere Ende des Blasenschlauchs in Sicht.

 Walter war es nicht gewohnt, die Waffe mit der Linken zu halten; ihr Lauf zitterte. Er versuchte, die Pistole mit seiner verletzten Hand abzustützen, rutschte aufgrund des Bluts aber immer wieder ab. Also ließ er die Rechte schließlich schlaff herabhängen und konzentrierte sich darauf, nur mit Links zu schießen. Leises plopp-plopp-plopp kündete davon, dass sein kostbarer Lebenssaft neben ihm aufs Parkett tropfte.

 Tekelili, verkündete die Kreatur noch einmal. Sie füllte den Korridor vor dem Schlafzimmer nun fast komplett aus und bot somit ein Ziel, das selbst ein beeinträchtigter Schütze unmöglich verfehlen konnte.

 »Friss das«, grunzte Walter und drückte mehrmals in rascher Folge ab. Die Beretta ruckte in seiner Hand; es gelang ihm nur unzulänglich, sie zu stabilisieren. Aber das war bei einem Ziel dieser Größe auch gar nicht nötig. Schleimige Fontänen stoben auf, wo Projektile in die Blasenmasse einschlugen. Das fremdartige Pfeifen erstarb mitten in der Tonfolge. Tekeli…

 Allerdings geschah sonst nicht viel. Die Kreatur schien kurz zu verharren, so als hielte sie den Atem an. Walter nutzte die Gelegenheit, um auch den Rest des Magazins in sie zu pumpen. Seine Ohren begannen aufgrund der Detonationen zu klingeln.

 Unvermittelt dehnte die Blasenmasse sich noch stärker aus. Als würde etwas Luft in sie pumpen, flutete sie den Korridor jetzt vollständig und schwoll immer weiter an. Holz knackte bedrohlich, dann krachte es. Der Fußboden riss auf, ein tiefer Spalt arbeitete sich in einer gezackten Linie auf Walter zu. Das Haus begann in seinen Grundfesten zu erbeben, noch mehr Staub rieselte von der Decke und verunreinigte die Atemluft.

 Die Dielen unter Walter bäumten sich auf. Er federte die Bewegung mit den Knien ab und kam sich dabei vor, als würde er auf dem Deck eines Schiffes stehen, das in einen gewaltigen Sturm geraten war. Der Spalt fraß sich zwischen seinen Beinen hindurch, verbreiterte sich und gab den Blick auf das Chaos im Erdgeschoss frei.

 Du hast es erst richtig wütend gemacht, raunte ihm eine innere Stimme zu. Jetzt hast du dir echt was eingebrockt.

 Als Walter schon befürchtete, das Haus würde über ihm zusammenstürzen, ließ der Ansturm der Blasenmasse endlich nach. Das Wesen beendete die Handlung, bei der es sich Walters Meinung nach um das Äquivalent eines zornigen Brüllens gehandelt hatte, und bohrte sich stattdessen auf ihn zu. Innerhalb von Sekundenbruchteilen bildeten sich an seiner Vorderfront dutzende von zahnstarrenden Mäulern und gierig schnappenden Schnäbeln.

 Walter schleuderte dem Ding die nutzlos gewordene Pistole entgegen und sprang zur Seite, um möglichst weit von dem Spalt im Fußboden wegzukommen. Er krachte gegen die hüfthohe Kommode, in der er seine Kleidung aufbewahrte. Ein helles Klappern erklang.

 Walter riss die Augen auf, als er den Gegenstand erkannte, der aufgrund der Kollision über die Oberfläche des Möbelstücks rutschte. Eine unbedarfte Person hätte das Ding für einen rostigen Hammer gehalten. Doch Walter hatte selbst erlebt, dass es zu weitaus mehr imstande war als das simple Werkzeug, dessen Gestalt es angenommen hatte.

 Das Artefakt!, durchfuhr es ihn.

 Ohne nachzudenken grapschte er danach, und zwar mit der verletzten Hand. Er jaulte vor Schmerz, als seine blutigen Fingerstümpfe auf das Holz des Griffs trafen, packte aber trotzdem entschlossen zu. Mit gebleckten Zähnen wirbelte er herum, stellte sich der Blasenmasse, die heranglitt, um ihn zu zerfleischen.

 Er musste erkennen, dass ihm gerade noch genügend Zeit für eine einzige schnelle Bewegung blieb. Dann würde das Ding sich über ihn stülpen, ihn zerfressen und aussaugen und nichts als abgenagte Knochen zurücklassen – wenn überhaupt. Walter konnte sich nicht weiter vor ihm zurückziehen, denn jenseits der Kommode endete sein Schlafzimmer in einer schmucklosen Holzwand.

 Also schleuderte er den Hammer, so fest er konnte.

 Noch während er den Griff des Artefakts losließ, spürte er, wie sich dessen Form veränderte. Aber er kam nicht dazu, sich über diesen Umstand zu wundern, denn in diesem Moment stießen sämtliche der Schnäbel, die nur Zentimeter vor seinem Gesicht klapperten, ein schrilles Pfeifen aus. Gleichzeitig änderte die Blasenmasse ihre Farbe – aus schleimigem Graugrün wurde ein grelles, loderndes Orange.

 Das Kreischen wurde immer lauter und hochfrequenter. Walter schirmte die Ohrmuscheln mit den Händen ab und hatte dennoch das Gefühl, etwas würde ihm Stricknadeln in die Gehörgänge bohren. Von vorne strömte ihm mit einem Mal eine gewaltige Hitze entgegen.

 Die Kreatur zerplatzte in Myriaden Tropfen brennender Schlacke. Feuer regnete auf Walter herab, verbrannte seine freiliegenden Hautpartien, steckte seine Kleidung sowie die ihm verbliebenen Haare in Brand. Die Bettwäsche fing Feuer, genau wie die Kommode. Gleichermaßen entsetzt und perplex, schlug Walter auf die lodernden Zungen ein, die an ihm leckten, während sich sein Schlafzimmer in Windeseile in eine Flammenhölle verwandelte. Fettiger schwarzer Qualm flutete den Raum, Funken stoben darin umher. Atmen wurde innerhalb von Sekunden unmöglich.

 Walter stolperte durch den Rauch und trat plötzlich ins Nichts. Er ruderte mit den Armen und schaffte es irgendwie, über den Spalt im Fußboden hinwegzusetzen, der ihn beinahe verschluckt hätte. Dabei blieb er mit dem Fuß an etwas hängen – offenbar ein länglicher Gegenstand, der hell klapperte. Rasch bückte er sich und bekam ihn tatsächlich zu fassen. Er fühlte sich wie eine Art Stab an, meterlang und vielleicht drei oder vier Zentimeter dick.

 Ist das … das Artefakt?, dachte er und wurde von einem neuerlichen Hustenanfall erfasst.

 Er musste hier raus, ehe ihn der Brand bei lebendigem Leib röstete oder erstickte, je nachdem, was schneller eintrat. Und dafür blieb ihm nur ein einziger Weg.

 Nahezu blind stolperte Walter in die Richtung, in der er das Schlafzimmerfenster vermutete. Er prellte sich das Schienbein an den brennenden Überresten seines Betts, fiel beinahe über eine aus dem Fußboden ragende Planke und schlug sich den Kopf an der Dachschräge an, dann traf seine tastende und blutverschmierte Handfläche endlich auf die kühle Glasscheibe.

 Unfassbar, dass die bisher heil geblieben ist, dachte er, als er mit dem Stab die Scheibe zerschlug. Lebensspendender Sauerstoff strömte ihm entgegen; rasch sog Walter seine Lungen damit voll, ehe der aus dem Fenster wallende Qualm ihn wieder eingehüllt hatte. In seinem Rücken schwollen die Flammen aufgrund der Frischluftzufuhr zu gewaltiger Größe an; die Hitze schien ihm die Haut vom Fleisch zu schmelzen.

 Walter stöhnte, während er die verbliebenen Splitter aus dem Fensterrahmen entfernte. Dann wurden die Schmerzen so stark, dass ihm keine andere Wahl blieb, als es zu riskieren.

Bitte seid da, dachte er, packte mit den verbliebenen Fingern seiner rechten Hand den Sims und schwang ein Bein durch die Öffnung. Er wusste, dass mehrere Meter unter ihm das Kopfsteinpflaster einer schmalen Gasse lag. Die Anwohner pflegten dort üblicherweise ihre Mülltonnen abzustellen. Ob man einen Sturz auf diese Dinger überleben konnte?

 »Eher als einen auf Pflastersteine«, murmelte Walter, bugsierte den merkwürdigen Stab durchs Fenster und warf sich dann selbst hinaus.

 Er spürte, wie er sich um die eigene Achse drehte. Kurz klärte sich sein Blick, als er aus der Qualmwolke herausfiel. Als der Aufprall erfolgte, wurde die Welt finsterer als jemals zuvor.